Mittwoch, 6. Juni 2018

Station 9: Aljezur - Leben und Alltag

Mit der ganzen Familie in ein anderes Haus zu ziehen, kann schon schwierig sein. Richtig kompliziert wird es, wenn eine fünfköpfige Familie umzieht und dabei ihr gesamtes Haus mitnimmt - weil sie nämlich dauerhaft in Zelten wohnt.


Als ich das Profil dieser Familie gelesen habe, bin ich neugierig geworden. Sie leben in Jurten - in großen, traditionellen Wohnzelten - mitten in der Natur. Das Land teilen sie sich mit ihren Eseln und Hühnern. Die Kinder gehen nicht zur Schule, sondern lernen von und mit der Natur.
Das alles klang so alternativ und so anders im Vergleich zu meinem Lebensstil (und auch ein wenig schräg), dass ich mir einfach ansehen musste, wie es funktioniert.

Die Familie teilt sich das Land mit einer zweiten Familie. Somit leben insgesamt 11 Leute hier, davon sind sieben Kinder. Still ist es also nie.
Ich war sehr gespannt auf meine Zeit in diesem Projekt, aber auch ein bisschen skeptisch. Doch dann wurde ich so herzlich und offen aufgenommen, dass ich mich nach kurzer Zeit nicht mehr wie eine Fremde, sondern wie ein Teil der Familie gefühlt habe. 
Natürlich hatten wir hin und wieder unterschiedliche Ansichten, aber niemand hat behauptet, mein Lebensstil wäre falsch oder hat versucht, mir seine Meinung aufzudrängen. Und die Kinder haben mich als große Schwester anerkannt. 


Endlose Ferien?


Ich habe 12 Jahre lang fünf Tage pro Woche in der Schule verbracht. Die Kinder hier sind nie auf einer normalen Schule gewesen. Sie werden auch nicht von ihren Eltern nach einem festen Schema unterrichtet. Wenn sie etwas lernen wollen, wird es ihnen beigebracht, wenn nicht, dann eben nicht. Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll. Eine Kindheit ohne Zwänge ist toll, aber was ist, wenn diese Kinder erwachsen werden? Fehlt ihnen nicht Wissen, das für Andere selbstverständlich ist? Wie kommen sie an einen Abschluss, eine Ausbildung, könnten sie studieren? Gleichzeitig muss ich aber zugeben, dass diese Kinder mich wirklich beeindruckt haben und sehr viel mehr können, als ich erwartet hätte. Beispielsweise können alle älteren Kinder lesen und schreiben. Die Kinder der einen Familie sprechen mittlerweile vier Sprachen und lernen die fünfte. Alle Kinder sind extrem reif für ihr Alter und außerdem die offensten und neugiegsten Menschen, die ich bisher getroffen habe. Tatsächlich wollen sie lernen, stellen unglaublich viele Fragen und wissen viel. 

Einfaches Leben


Luxus gibt es hier nicht. Das liegt nicht an den Jurten - eine voll eingerichtete Jurte hat nichts mit einem Campingzelt zu tun, sondern ist tatsächlich sehr gemütlich - sondern eher am Standpunkt mitten in der Natur. Ich wohne in einer kleinen Containerhütte auf einem Hügel. An das Abwassersystem ist hier natürlich nichts angeschlossen, also steht etwas von der Hütte entfernt unter einer alten Korkeiche mein Kompostklo (und wirklich nur das Klo - keine Wände oder ähnliches drum herum). Unten neben den Jurten gibt es eine Dusche mit Solaranlagen. Wirklich warm wird das Wasser damit aber nicht, es ist nur nicht ganz so kalt... Die Kinder waschen sich ohnehin fast immer direkt im Fluss. In einem Container, in dem auch die Küche eingerichtet ist, gibt es tatsächlich Elektrizität, auf dem restlichen Land aber nicht. 
Auch die Ernährung hier ist simpel (und außerdem ohne Milch, Ei, Gluten und Zucker). Die meisten Produkte kommen direkt aus dem Garten, nur einige werden im Supermarkt gekauft. 


Barfuß im Mondlicht tanzen


Mein letzter Tag hier ist gleichzeitig auch der letzte Tag der beiden Familien auf diesem Land. Deswegen gibt es eine riesige Abschiedsparty mit etwa hundert Gästen. Von einem Freund wird eine gigantische Musikanlage geliehen, eine Diskokugel im Baum aufgehängt und der Platz, auf dem vor einigen Tagen noch ein Zelt stand, wird zur Tanzfläche umgewandelt. Außerdem wird eine riesige Badewanne mit Feuerholz angeheizt, und selbst lange nach Sonnenuntergang kann man noch im warmen Wasser sitzen und dabei die Sterne anschauen (besser als jeder künstliche Whirlpool!! So ein Teil sollte auf jeder Gartenparty stehen). Auf dem staubigen Boden sind Schuhe irgendwie unpraktisch, also tanzen nach wenigen Minuten alle barfuß. Nachdem die Sonne untergegangen ist, machen wir auch noch ein Lagerfeuer. 
 
Nach und nach verschwinden alle Gäste. Irgendwann sitzen nur noch die beiden Familien und ich rund um das Feuer. "Lustig", sagt meine Gastgeberin zu mir, "Es ist, als wärst du immer schon hier gewesen"

Die ersten Kinder sind mittlerweile neben dem Feuer eingeschlafen. Ich hätte mir keinen besseren Ausklang für diese wunderbare Woche wünschen können.

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